Zeit drängt! Abwehr-Chaos macht Sorgen für Flicks Heim-Mission
14.06.2023 | 12:53 Uhr
In ihrem 1000. Länderspiel hat die deutsche Nationalmannschaft nur 3:3 gegen die Ukraine gespielt. Erneut hat das Team von Hansi Flick einige Schwächen aufgewiesen - insbesondere defensiver Natur. Knapp ein Jahr vor der Heim-EM sucht man bei der Nationalelf vergeblich nach Stabilität. Eine Analyse.
Bei der Niederlage Deutschlands beim WM-Auftaktspiel gegen Japan sorgte eine Aktion von Abwehrchef Antonio Rüdiger in der 64. Minute für kollektives Augenreiben. Zu einem Zeitpunkt, als die DFB-Elf noch führte, ging Rüdiger mit Geschwindigkeitsvorteil in ein Laufduell mit Takuma Asano - und ließ sich plötzlich zu einem den Gegner mokierenden Storchengang hinreißen. Wie das Turnier für die deutsche Nationalmannschaft endete, ist hinlänglich bekannt. Rüdigers Auftritt gegen Japan zeigte symptomatisch das breite deutsche Defizit-Tableau: Arroganz, mangelnde Koordination und fehlende Staffelung. Auch ein halbes Jahr später hat sich daran erschreckend wenig geändert.
Gegen die Ukraine hat Nationaltrainer Hansi Flick eine taktische Neuerung ausprobieren wollen: Dreierkette und Doppelsturm. Das erste Zwischenfazit des Experiments fällt - gelinde gesagt - bescheiden aus. Die Dreierkette aus Antonio Rüdiger, Matthias Ginter und Nico Schlotterbeck agierte mitunter vogelwild, die Abstände innerhalb der Abwehr und zwischen den Ketten stimmten überhaupt nicht, immer wieder offenbarte die Defensive desolate Schnittstellen, in denen mutig spielende Ukrainer im Rücken entwischen konnten.
Auch die Koordination mit den jeweiligen Schienenspielern Marius Wolf und David Raum schien keineswegs zu funktionieren. Von strukturiertere Tiefenstaffellung war nichts zu sehen, Raumabsicherung suchte man vergeblich. Die Gegentore resultierten wahlweise aus "leichten Fehlern" (Kevin Trapp), waren "sehr unnötig" (Jonas Hofmann) oder schlicht "saudumm" (Joshua Kimmich). Das Zweigespann aus Leon Goretzka direkt vor der Abwehr und Joshua Kimmich ein Stück weiter davor bewies erneut die überschaubare Leistung aus der Bundesliga-Saison und dass wahrlich keiner von beiden ein Sechser ist.
Eine Alternative wäre der defensiver orientierte Emre Can, der gegen die Ukraine nur auf der Bank saß. Der frisch gebackene Champions-League-Sieger Ilkay Gündogan rückt später zum DFB-Team nach und wäre eine weitere Option für die Zentrale. Goretzka und Kimmich haben bei Flick derweil einen der Leistung enthobenen Status der Unantastbarkeit.
Dabei scheint es gar nebensächlich zu sein, in welcher Formation die DFB-Elf ihre Spiele bestreitet. Zur Halbzeit hatte Flick seine Mannschaft zurück auf Viererkette gestellt - merklich stabiler stand die Abwehr damit nicht. Der Nationaltrainer ist weiterhin auf der Suche nach seiner Stammelf. In den letzten 20 Spielen hat der 58-Jährige 19 andere Abwehrformationen auflaufen lassen. In den letzten neun Partien war die Nationalmannschaft nur dreimal siegreich, die letzten 14 Spiele blieben nur zweimal ohne Gegentor. Eine Abstimmung untereinander und Konstanz im Allgemeinen sind so kaum zu erreichen.
Lakonisch stellte Flick nach dem Spiel fest: "Was die Defensivleistung betrifft, war es teilweise einfach nicht genug", hielt aber an seiner Vision fest: "Wir haben einen Plan, was das Ganze betrifft, das werden wir weiterhin durchziehen." Man müsse schlicht die "Fehler abstellen und kompromissloser verteidigen." Der Rechtfertigungs-Kanon kommt einem mittlerweile doch sehr bekannt vor.
Auch die personellen Wechsel während der Partie brachten nicht den gewünschten Umschwung, sondern legten im Gegenteil die strukturellen Probleme der deutschen Nationalmannschaft offen, die sich nicht zuletzt im Kader bemerkbar machen. Lukas Klostermann, Benjamin Henrichs, und Jonas Hofmann kamen für Nico Schlotterbeck, Marius Wolf und David Raum. Eine Mischung aus Spielern, die auf Vereinsebene gute (Hofmann und Wolf) bis schwankende (Schlotterbeck und Henrichs) und unterdurchschnittliche (Raum und Klostermann) Leistungen bringen - in der Nationalmannschaft aber alle keine konstanten Leistungen erbrachten. Gerade im Hinblick auf die Außenverteidiger-Position sucht man in der DFB-Elf mittlerweile seit Jahren nach adäquatem Personal. Den Leistungen der vergangenen Länderspiele zufolge drängt sich auf der defensiven Abwehrseite niemand auf.
Zum deutschen Defensiv-Konglomerat gehört im Regelfall auch Niklas Süle. Der BVB-Profi musste im Vorfeld der Länderspiele gehörig Kritik von Flick einstecken, der über den 27-Jährigen urteilte, er lasse "noch einiges liegen" - eine Nominierung für die Freundschaftsspiele blieb aus. Noch bei der WM galt Süle als gesetzt, spielte in Dortmund zudem eine gute Saison - nun muss der Innenverteidiger um seinen Startelf-Einsatz bangen.
Sicherlich ist es sinnvoll und vertretbar, sich taktisch und personell neu aufstellen zu wollen - gerade nach den vergangenen Leistungen. Nur bleibt Flick allmählich ein wahrhaftiges Konzept schuldig. Die ständigen Rotationen verhindern eine eingespielte Mannschaft, die taktischen Änderungen konterkarieren einen möglichen Rhythmus. Überfordert dürften die deutschen Defensivspieler unterdessen kaum von Flicks Vorstellungen gewesen sein. Die meisten Profis haben auf Vereinsebene bereits in der Dreierkette gespielt. Ohnehin gehört strukturelle Variabilität zum Standard-Repertoire eines jeden modernen Verteidigers.
Die kommenden Länderspiele gegen Polen (16. Juni) und Kolumbien (20. Juni) werden zeigen, welche Konsequenzen Flick und die DFB-Elf selbst aus der Partie gegen die Ukraine ziehen werden. "Es muss natürlich alles besser werden", bemerkte Sky Reporter Uli Köhler im Hinblick auf die anstehenden Tests. An der Dreierkette wolle der Nationaltrainer festhalten, wie er bereits erklärte. In knapp einem Jahr beginnt die Heim-EM, Flick müsste besser gleich als spät ein Konzept aufweisen, das verfängt, um das erneute Scheitern bei einem großen Turnier - zumal im eigenen Land - zu verhindern.
Sonst wird das nächste Sommermärchen zum Horrorfilm...