Der krachende Niedergang einer Fußballübermacht
14.10.2024 | 09:43 Uhr
Der brasilianische Fußball befindet sich in der größten Krise seiner Geschichte. Sportlich hängt die Selecao deutlich ihren eigenen Ansprüchen hinterher. Nun schaltete sich auch der brasilianische Präsident Lula ein und fordert sportlich drastische Maßnahmen. Doch wie konnte es überhaupt soweit kommen?
Die einstige Fußballmacht aus Brasilien versinkt im Chaos. Großer sportlicher Erfolg und eine Weltauswahl mit schillernden Namen wie Ronaldo, Ronaldinho, Kaka & Co. - diese Zeiten sind vorbei. Die bittere Realität: Vorzeitiges Viertelfinal-Aus bei den letzten beiden Weltmeisterschaften 2018 & 2022, verpasste Olympia-Teilnahme und auch in der WM-Qualifikation belegt man derzeit einen enttäuschenden vierten Platz (sieben Punkte hinter Weltmeister Argentinien).
Seit Jahren zeigt die fußballerische Entwicklung der Selecao nach unten. Selbst das brasilianische Staatsoberhaupt Luiz Inacio Lula da Silva mischte sich jüngst in die große Krise ein und forderte, Weltstars wie Vinicius Jr. oder Rodrygo nicht mehr zu berücksichtigen. Doch die Probleme des einstigen Fußballgiganten liegen tiefer…
Experten und ehemalige brasilianische Fußballer wie Grafite sahen die eigene Fußballnation schon seit Jahren in eine große Krise schlittern. Ein Grund ist das personelle Chaos auf Führungsebene. Ende 2022 wurde der langjährige Trainer Tite entlassen. Was folgte, waren zwei weitere Trainerwechsel, da der sportliche Erfolg weiterhin ausblieb. Aktuell steht Dorival Junior an der Seitenlinie, allerdings kämpft auch der 62-Jährige mit der sportlichen Konstanz (drei Niederlagen in den letzten fünf Spielen).
Wie sehr die Führungsetage im Chaos versinkt, offenbart auch die Position des Verbandspräsidenten, die aktuell von Ednaldo Rodrigues besetzt ist. Rodrigues verkündete einst offiziell die Verpflichtung von Carlo Ancelotti als neuen Nationaltrainer nach der Saison 2023/24. Was folgte: Der Präsident musste Ende 2023 aus rechtlichen Problemen zurücktreten, Ancelotti verlängerte daraufhin bei Real und der Verband versank daraufhin so sehr im Chaos, sodass Rodrigues nur einen Monat später wieder als Präsident zurückkehrte.
Dies ist das Gegenteil von personeller Konstanz und einer klaren Vision, die andere Nationen wie Frankreich oder lange Zeit auch England ausgezeichnet haben.
Was zeichnete den brasilianischen Fußball Jahrzehnte lang aus und machte ihn so erfolgreich? Antwort: Die große Spielfreude, Stichwort Joga Bonito und großes Offensivfeuerwerk. Diese Straßenfußballermentalität hat die Selecao in den letzten Jahren spürbar verloren. Ein Grund hierfür: Seit gut 20 Jahren ist es gesetzlich erlaubt, als Nicht-EU-Ausländer in Europa Fuß zu fassen.
Das hat zur Folge, dass viele brasilianische Talente wie Endrick mit gerade einmal 18 Jahren frühzeitig die Heimat verlassen und ihre fußballerische Ausbildung in Europa absolvieren können. Somit ist die fußballerische Sozialisierung im Vergleich zu den 60er- bis 90er-Jahren eine andere. Stars wie einst Ronaldo oder Ronaldinho sammeln heutzutage kaum noch Spielpraxis im eigenen Land, sondern lernen ihr fußballerisches Können fast ausschließlich in Europa.
Viel kann der Verband gegen diese Entwicklung jedoch nicht tun. Die heimischen Vereine sind auf die europäischen Ablösesummen angewiesen und die jungen Spieler haben die große Chance, frühzeitig viel Geld zu verdienen, um den armen Verhältnissen zu entkommen.
Früher glich die brasilianische Nationalmannschaft beinahe einer Weltauswahl. Fast jede Position war mit Weltklasse besetzt und die europäischen Nationen fanden kaum Mittel, den spielerisch so versierten Einzelkönnern etwas entgegenzusetzen.
Dieses Blatt hat sich mit der Zeit komplett gedreht. Die voranschreitende Professionalisierung des europäischen Fußballs hat die einst klaffende Lücke schließen können. Nachwuchsleistungszentren ermöglichen eine hoch professionelle Talentförderung, welche den Nationen in puncto Taktik oder Physis nun große Vorteile beschert.
Diese Entwicklung geht in Brasilien nur schwerfällig voran. Jeder Verein verfolgt eine eigene und keine einheitliche Jugendförderung. Und beispielsweise ein Blick auf die aktuelle Besetzung der Innenverteidigung verdeutlicht: Nach den Selecao-Karriereenden von David Luiz und Thiago Silva hat der Rekordweltmeister auf diesen Positionen ein Qualitätsproblem.
Doch warum kommt der amtierende Weltmeister trotz dieser sportlichen Entwicklung dennoch aus Südamerika? Argentinien hat insbesondere das Problem der Nachwuchsförderung früher erkannt und setzt ebenfalls durch alle Jugendmannschaften hinweg auf eine einheitliche Spielphilosophie, die auch den Spielern auf dem Weg nach Europa mitgegeben wird. Darüber hinaus sitzt mit Lionel Scaloni ein Trainer auf der Bank, der für personelle Konstanz steht (seit 2018 im Amt).
Vielleicht ist es also ratsam, wenn Brasilien in diesen Punkten ausgerechnet von ihrem Dauerrivalen lernt, um langfristig wieder zu einer Fußballmacht heranzuwachsen…
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