Das Paradies kann warten
05.05.2023 | 14:19 Uhr
Eine ganze Stadt in Ekstase: Und ein Vulkan muss vor seinen Anwohnern geschützt werden.
"Wer denkt, in Neapel sei der Fußball lediglich Fußball, hat weder den Calcio noch Neapel verstanden" (Marco Bellinazzo/Journalist).
Es ist vollbracht: Neapel ist italienischer Meister. Zum dritten Mal nach 1987 und 1990, zum ersten Mal ohne den größten Adoptivsohn der Stadt: Diego Armando Maradona. Was die Elf von Trainer Luciano Spalletti geleistet hat, wird in die Geschichtsbücher eingehen - auf zahlreichen Wandgemälden der süditalienischen Metropole sind die Helden der Neuzeit ohnehin schon abgebildet. Erstmals seit 2001 (damals AS Rom) geht der Titel nicht nach Turin oder Mailand und damit nicht in den wirtschaftlich weit enteilten Norden Italiens. Es ist sportlich gesehen die Auferstehung des Südens.
Seit Wochen bereiten die Neapolitaner den großen Tag vor: Kaum eine Fassade, die nicht mit Napoli-Fahnen oder der italienischen Trikolore für den Meister geschmückt ist. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Hunde in Napoli-Trikots, Pizza-Kreationen benannt nach den Spielern, Friseure, die den Fans den Haarschnitt der Profis verpassen, Nonnen singen in der Kirche Stadionlieder. Alle fiebern mit.
Als aber der Aufruf kommt den Titel mit tausenden bengalischen Feuern auf dem Vesuv zu feiern - einen Ausbruch des Vulkans also quasi zu simulieren - müssen die Sicherheitsbehörden einschreiten. Die Schutzzone rund um den Krater wird von der Polizei bewacht, der Eintritt verboten. Ein Vulkan muss also vor seinen Anwohnern geschützt werden: Das gibt es nur in Neapel.
Die Stadt am Rande des Vesuvs ein Ort zwischen Himmel und Hölle. Reichtum und Armut, Gastfreundlichkeit und Brutalität der organisierten Kriminalität: In Neapel trifft alles aufeinander. Für Außenstehende kaum zu begreifen, die Gassen ein eigener Kosmos, der Dialekt eigentlich eine eigene Sprache. Der Fußball dort immer schon eine Religion und ein Zufluchtsort. Nichts geht ohne Theater, ohne "grande spettacolo". Als zwischen 1984 und 1991 mit Maradona der beste Fußballer der Welt am Golf von Neapel vorspielt, ist das Stadio San Paolo das Paradies auf Erden: Zwei Mal Meister, Pokalsieger, Uefa-Cup-Sieger. Triumphe für die Ewigkeit. Auf den Friedhofsmauern steht danach: "Ihr wisst nicht, was ihr verpasst." Neapel, Heimat der Extreme.
Die Maradona-Jahre in jeder Hinsicht ein Rausch, sie enden jedoch mit einem riesigen Kater nach dem Abgang des "Pibe d'Oro". Überschuldet rutscht Napoli erst ins Mittelfeld, es folgen Abstiege inklusive Pleite 2004. Mit der Übernahme des Klubs durch Aurelio De Laurentiis in der dritten Liga im selben Jahr, beginnt nach und nach die Rückkehr auf die große Bühne. Vorerst gekrönt durch den Scudetto 2023.
Nun feiert die Millionenstadt einen Titelgewinn, der sich im vergangenen Sommer alles andere als abzeichnet. Trotz Rang drei der Spalletti-Elf vergangene Saison und vier Vize-Meisterschaften in den vergangenen zehn Jahren. Der Aderlass im letzten Jahr war groß: Leistungsträger und Idole wie Lorenzo Insigne, Dries Mertens oder Kalidou Koulibaly verlassen den Verein. Der bei vielen Fans umstrittene Präsident Aurelio De Laurentiis - römischer Filmproduzent - fährt einen knallharten Sparkurs. Die Neuzugänge Min-jae Kim aus Südkorea und vor allem der Georgier Khvicha Kvaratskhelia sorgen erstmal für Stirnrunzeln bei den Tifosi. No-Names mit zum Teil unaussprechlichen Namen.
Nur ein halbes Jahr später stellen die italienischen Gazetten aber besonders bei Edeltechniker Kvaratskhelia fest: "Napoli hat einen Ferrari zum Preis eines Fiat gekauft" (Ablöse 11,5 Mio. Euro). Mit begeisterndem Offensivfußball fegen die Azzurri über die Plätze der Serie A hinweg, sind ab dem sechsten Spieltag durchgehend Tabellenführer und stoßen nebenbei erstmals in der Vereinsgeschichte bis ins Viertelfinale der Champions League vor.
Spalletti schafft es im zweiten Jahr als Trainer der Azzurri eine perfekt geölte Offensivmaschine rund um Top-Torjäger Victor Osimhen zusammenzubauen. "Es ist eine lebenslustige Stadt voller Energie, manchmal auch ein bisschen verrückt", so Trainer Spalletti. Der Mann aus der Toskana (aus Sicht der Neapolitaner quasi Dänemark) hat sich auf diese spezielle Stadt eingelassen und damit Erfolg.
Wie steht es um die Zukunft von Victor Osimhen?
Spätestens ab Februar zeichnet sich der Titel ab, immer mehr Straßen werden in azurblaue Fahnen getaucht. Vorher überwiegt - wie immer - die Skepsis bei den Tifosi. Denn Glaube und Aberglaube spielen in Süditalien bis heute eine große Rolle. La Scaramanzia (Aberglaube) verhindert lange zu große Euphorie. Es könnte ja doch wieder schief gehen mit dem Titel. Das Wort Scudetto lange auf dem Index in der Öffentlichkeit. Als Bestätigung der 32. Spieltag: Alles ist angerichtet, Lazio verliert bei Inter, Napoli muss zu Hause gegen Salerno gewinnen und der Titel ist fix. In der 84. Minute kassiert die Spalletti-Elf aber den Ausgleich, Endstand 1:1, Meister-Party (vorerst) vertagt. Der verflixte Aberglaube …
Einen Spieltag später aber ist es so weit: Das 1:1 in Udine reicht diesmal zum Titel. Um etwa 22:30 Uhr beginnt für Neapel der endgültige Eintritt ins Delirium: Campione d'Italia! Beste Angriff, beste Abwehr, die meisten Siege, die wenigsten Niederlagen. Es ist eine hochverdiente Meisterschaft bereits fünf Spieltage vor Saisonende.
Eine ganze Stadt und ihre Bewohner am Ziel ihrer Träume nach über drei Jahrzehnten des Wartens. Das Paradies im Himmel kann warten, es ist für die Neapolitaner gerade wieder auf Erden, im Stadio Diego Armando Maradona und in den Gassen der Altstadt. Die Feierlichkeiten werden wohl Monate dauern.
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