Einst von Maradona verhöhnt! Der "andere" Lionel als WM-Architekt
19.12.2022 | 12:58 Uhr
Lionel Messi hat Argentinien nach 36 Jahren wieder zum WM-Titel geführt. Der Superstar überragt in Katar mit sieben Toren und drei Assists, aber ein anderer Lionel hat einen ähnlich großen Anteil am Erfolg. Trainer Lionel Scaloni, der einst von Diego Maradona verhöhnt wurde.
"Scaloni kann nicht einmal den Verkehr leiten, wie können wir ihm da denn die argentinische Nationalmannschaft übergeben? Sind wir denn alle verrückt?", schimpfte Diego Armando Maradona 2018, als Lionel Scaloni zum Cheftrainer der Albiceleste befördert wurde. Und der mittlerweile verstorbene Weltmeister-Kapitän von 1986 legte nach: Scaloni sei "völlig unfähig" und "gar kein richtiger Trainer", auch wenn er insgesamt ein "großartiger Muchacho" sei.
Es war einer der seltenen Fälle, als es um einen Lionel in der argentinischen Nationalmannschaft ging, aber nicht Lionel Messi damit gemeint war. Normalerweise dreht sich nämlich alles um Messi beim Fußball-Riesen aus Südamerika. Wie könnte es auch anders sein?
Der Superstar hat mit dem FC Barcelona und Paris St. Germain auf Klubebene alles gewonnen, was man sich nur denken kann und wurde auch mit individuellen Auszeichnungen überschüttet. Allein den Ballon d'Or hat Messi sieben Mal gewonnen und damit zwei mehr als jeder andere Fußballer, den die Welt je gesehen hat. Unzählige Traumtore, sagenhafte Dribblings oder perfekte Vorlagen sorgen dafür, dass Messi auf der ganzen Welt verehrt wird.
Doch um auch mit der Albiceleste Trophäen abzustauben, benötigte der 35-Jährige ausgerechnet den "anderen" Lionel. Unter dem von Maradona so beschimpften Scaloni komplettierte Messi nämlich seinen Trophäenschrank erst mit der Copa America 2021 und krönte seine Karriere nun auch mit dem Weltmeister-Titel in Katar.
Doch wie kam es dazu? Als Spieler erreichte Scaloni schließlich keinen Superstar-Status. Der Rechtsverteidiger spielte in Europa lange für Deportivo La Coruna und war auch für Lazio Rom, West Ham, Racing Santander, Atalanta Bergamo und RCD Mallorca aktiv. Auf der Balearen-Insel lebt er auch heute noch, da er sich während einer Leihe 2009 in die einheimische Volleyballspielerin Elisa Montero verliebte.
Das Paar heiratete später, kehrte nach der aktiven Karriere nach Mallorca zurück und hat mittlerweile zwei Kinder. Immerhin sieben Mal lief Scaloni auch für Argentinien auf und stand bei der WM 2006 in Deutschland im Achtelfinale gegen Mexiko auch beispielweise gemeinsam mit Messi auf dem Platz.
Als Cheftrainer übernahm er die argentinische Nationalmannschaft schließlich 2018 nach dem Achtelfinal-Aus gegen Frankreich bei der WM in Russland. Nach der 3:4-Niederlage gegen den späteren Sieger wurde Jorge Sampaoli von seinen Aufgaben entbunden und Co-Trainer Scaloni zum neuen Chef befördert. Zumindest vorläufig, denn diese Lösung kam nicht nur bei Maradona nicht besonders gut an.
Doch der Verband hatte nach vielen Trainerwechseln keine Wahl und so war Scaloni auch bei der Copa America 2019 noch Cheftrainer. Dort ging es, nach einer 0:2-Auftaktniederlage gegen Kolumbien, bis ins Halbfinale, wo Gastgeber Brasilien zu stark war. Dennoch war eine Entwicklung zu erkennen und Scaloni sollte die Albiceleste nun zur Weltmeisterschaft 2022 in Katar führen. Eine gute Entscheidung der Verantwortlichen, denn mit Scaloni war endlich ein Trainer gefunden, der es verstand, eine Mannschaft um Messi herum aufzubauen.
Zunächst verzichtete Scaloni aber noch freiwillig auf den Superstar. Nach der WM in Russland war unklar, ob Messi noch weiter für Argentinien spielen wollte, also suchte der neue Coach das Gespräch. Gemeinsam mit seinem Co-Trainer Pablo Aimar, einem Ex-Profi, zu dem Messi aufschaut, riefen sie Messi an:
"Als wir die Mannschaft übernommen haben, haben wir zusammen mit Pablo ein Videotelefonat mit ihm geführt und gesagt: 'Leo, wir werden die Seleccion übernehmen und wir wollen dich wissen lassen, dass die Türen offen sind - aber dass es vielleicht besser ist, wenn du erst mal nicht kommst'", erläuterte der aktuelle Erfolgstrainer damals in der Süddeutschen Zeitung. Man wolle erst eine "gefestigte Truppe" haben, in die Messi sich einreihen könnte, so Scaloni. In den ersten sechs Länderspielen ohne den Weltstar experimentierte Scaloni daher auch viel und auch wenn es beim anschließenden Messi-Comeback 2018 eine 1:3-Pleite gegen Venezuela setzte, wähnte man sich auf dem richtigen Weg.
Scaloni hatte Recht, denn nach dem Copa-America-Aus gegen die Selecao bestritt Argentinien 36 Spiele ohne Niederlage. Man schaffte nicht nur spielend leicht die Qualifikation für die WM in Katar, sondern gewann endlich auch wieder einen wichtigen Titel. Scaloni marschierte mit Kapitän Messi zum souveränen Triumph bei der Copa America 2021, als man ausgerechnet Erzrivale Brasilien im Endspiel im legendären Maracana mit 1:0 besiegte.
Eine Niederlage sollte es ohnehin erst wieder in Katar geben, als das Auftaktspiel gegen Saudi Arabien sensationell mit 1:2 verloren wurde. Die Albiceleste hatte nicht nur den Weltrekord an ungeschlagenen Spielen von Italien mit 37 Partien denkbar knapp verpasst, sondern stand plötzlich auch vor dem Aus der bei der WM. Eine weitere Niederlage gegen Mexiko im zweiten Gruppenspiel und Messi & Co. hätten die Koffer packen müssen.
Doch der jüngste Trainer der WM blieb cool, reagierte und stellte taktisch etwas um. Er nahm mit den offensiven, aber schwachen Papu Gomez aus dem Team und brachte Alexis Mac Allister, um das Mittelfeld zu stabilisieren. Ein Kniff, der funktionierte: Gegen Mexiko (2:0) und Polen (2:0) ließ Argentinien kaum noch Torschüsse zu und vorne sorgte der andere Lionel für die entscheidenden Tore. Auch andere Maßnahmen funktionierten: Er baute Enzo Fernandez - den besten Youngster der WM - nach dem Mexiko-Spiel in die Startelf ein und schenkte fortan mit Julian Alvarez auch einem weiteren Youngster das Vertrauen. Der Angreifer von Manchester City zahlte es mit unbändigem Einsatz und vier WM-Toren zurück.
Auch im Finale sorgte er mit einer Änderung vielleicht für den entscheidenden Vorteil. Der während des gesamten Turniers angeschlagene Angel Di Maria stand plötzlich in der Startformation. Aber nicht wie sonst rechts, sondern auf der linken Seite. Die Idee dahinter? Wenn immer Messi rechts aufdreht, kann er das Spiel mit seinem starken linken Fuß hervorragend auf die andere Seite verlagern, wo der Juve-Profi dann ins Eins gegen Eins gehen kann.
Spielzüge dieser Art gab es gegen Frankreich zuhauf, bis Di Maria nach einer guten Stunde völlig entkräftet ausgewechselt werden musste. Das Manöver war ein voller Erfolg: Di Maria holte den Elfmeter zum 1:0 nach einem solchen Angriff heraus und erzielte das 2:0 nach einem perfekten Konter selbst.
Scaloni hat einfach ein Gespür, was die Mannschaft gerade braucht. Zudem holte er sich zahlreiche bekannte Ex-Spieler in sein Trainerteam wie Aimar oder auch Walter Samuel, zu denen die aktuellen Nationalspieler aufschauen. Und Scaloni hat die Gabe, die Spieler für seine Idee begeistern zu können.
"Er hat einfach dieses Menschliche und diese Wärme, und so, glaube ich, führt er auch Argentinien", sagte Miroslav Klose der FAZ über Scaloni, mit dem er von 2011 bis 2013 bei Lazio zusammengespielt hat. Der WM-Rekordtorschütze schwärmt von der Arbeit seines ehemaligen Teamkollegen mit Messi & Co.; "Wenn man sieht, wie die füreinander einstehen: Das ist genau sein Werk", so der ehemalige Torjäger.
Das würde wahrscheinlich auch Maradona mittlerweile so sehen. Übel genommen hat Scaloni der Lichtgestalt die heftigen Worte damals übrigens nie. Als er nach dem WM-Triumph gefragt wurde, was er zu Maradona nun sagen würde, wenn er anwesend gewesen wäre, erwiderte Scaloni:
"Sie machen mir gerade klar, dass er nicht hier ist, sonst würde man denken, er wäre hier unter uns. Glücklicherweise haben wir es geschafft, diesen Pokal zu gewinnen, wovon wir schon so lange träumen, denn wir sind ein fußballbegeistertes Land. Ich hoffe, er hat es von oben genossen. Ich bin sicher, wenn er hier gewesen wäre, hätte er es so sehr genossen, dass er als Erster auf dem Spielfeld gewesen wäre", so der 44-Jährige traurig und ergänzt: "Jetzt, wo Sie mich das fragen, wird mir klar, dass er nicht hier ist. Ich wünschte, er wäre hier, um diesen Moment zu genießen."