Europa League: This is Ibrox - eine Reportage aus Glasgow
This is Ibrox - so erlebte Sky Reporter Philipp Hinze Glasgow
07.05.2022 | 09:07 Uhr
Sky Reporter Philipp Hinze verfolgte das Ausscheiden RB Leipzigs vor Ort in Glasgow. Was er erlebte, war der unvergesslichste Fußballabend seines Lebens.
Als die rund 7.000 Rangers-Fans vergangene Woche die Leipziger Innenstadt fluteten und später im Gästeblock für ordentlich Alarm sorgten, konnte ich nur erahnen, was sich eine Woche später im legendären Ibrox Stadium abspielen könnte. Dass es allerdings der unvergesslichste Fußballabend meines Lebens wird, hatte ich in dieser Form nicht erwartet.
Am Mittwoch um 11:00 Uhr deutscher Zeit hebt der Presseflieger aus Leipzig nach Glasgow ab. Kaum angekommen, begrüßen uns die schottischen Flughafenmitarbeiter mit einem maximal schwer verständlichen Dialekt. "Hey yah, ho ya doin?", fragt mich einer der Securities mit verwaschener Aussprache. Vermutlich ist schottisches Englisch so schwer verständlich wie ein Dialog zwischen zwei 70-jährigen Urbayern. Der Mann mit kantigem Gesicht und orangener Weste wollte übrigens wissen, wie es mir geht.
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Mythos Ibrox sofort spürbar
Ich unterhalte mich während der Fahrt vom Flughafen zum Stadion kurz mit dem Busfahrer. Er ist glühender Celtic-Fan und drückt Leipzig für das Halbfinal-Rückspiel die Daumen. Dass die Grün-Weißen in dieser Saison wohl Meister werden, tröstet ihn dennoch nicht über den internationalen Erfolg der Rangers hinweg. Der Neid - vielmehr der Schmerz, den großen Stadtrivalen regelmäßig auf großer europäischer Bühne jubeln zu sehen, tut den Celtic-Anhängern weh, wie er erzählt.
Nach 20 Minuten erreichen wir das Ibrox Stadium. Sofort ist der große Mythos, der um die Arena kreist, sicht- und spürbar. Roter Backstein, zum Teil alte Glasfassaden, blaue Stahltore, steile Tribünen, enge Abstände von Sitz zu Sitz. Im Innenraum des Stadions riecht es nach Urin, Rauch und Bier. Die Toiletten erinnern an irgendeine dunkle Kiezkneipe - letzte Renovierung wahrscheinlich 1970. Große Rinnen, Waschbecken aus Stahl.
Es wirkt unprofessionell - aber mit Charme
Ähnliches Flair im Presseraum: Deckenhöhe unter zwei Meter, dutzende Journalisten dicht gedrängt in einer größeren Abstellkammer. Keine Fenster, keine Getränke, noch nicht einmal Leitungswasser. Eine pure Pressekonferenz ohne jeden Schnickschnack. Während Domenico Tedesco auf Deutsch antwortet, haben einige schottische Kollegen den Übersetzer so laut eingestellt, dass dieser fast Tedescos Antwort überstimmt. Alles wirkt etwas unprofessionell, beinahe provisorisch und spontan. Aber alles mit jeder Menge Charme versehen.
Ich unterhalte mich am Spieltag mit einigen britischen Kollegen und auch mit Fans, die mir mehrmals und eindringlich versichern, dass diese Atmosphäre heute Abend alles übertrifft, was ich jemals erlebt habe. Ich entgegne ihnen, dass ich bereits in Dortmund, Frankfurt, Magdeburg, Bergamo, San Sebastian oder auf St. Pauli war. An ihrer Aussage verändert sich trotzdem nichts.
Trainer van Bronckhorst schreibt Brief an verstorbenen Zeugwart
Hochemotional wird es für mich bereits fünf Stunden vor Anpfiff. Ich befinde mich vor dem Stadioneingang und sehe hunderte Schals, Blumen, Trikots, Bilder, Flaggen und Kränze vor einem der blauen Stahltore. "I will miss you my friend. Rest in Peace", steht auf einem persönlich geschriebenen Brief von Rangers Coach Giovanni van Bronckhorst.
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Minütlich kondolieren die Anhänger. Zeugwart Jimmy Bell verstarb Anfang der Woche überraschend an einem Herzinfarkt. Bell war über 30 Jahre im Verein, eine Vereinslegende, ein Mitglied der Rangers-Familie. Ein Unikat.
Im Stadion angekommen, interviewe ich RB-Trainer Tedesco rund 40 Minuten vor Anpfiff und muss dabei meine Stimme deutlich heben, weil die Glasgower Kicker für das Aufwärmprogramm erscheinen. Es wird zum ersten Mal richtig laut.
Gänsehaut Non-Stop mit Tränenfolge
Später gehe ich zur Pressetribüne. Auf dem Weg dahin sehe ich Fans, die kurz vor Anpfiff noch in einem Wettkiosk, der im Stadion integriert ist und die dortigen Quoten mit weißer Kreide auf einer Tafel vermerkt sind, Geld auf die Rangers setzen. Der Weg zu meinem Platz ist steil. Einmal mitten durch die positiv verrückten Blau-Weißen durch, die allesamt freundlich, betrunken und unheimlich laut sind. Eine schwere Holztür ebnet mir schließlich den Weg.
Zehn Minuten vor Anpfiff beginnt die ab jetzt nicht mehr aufhören wollende Gänsehaut. Nicht an den Unterarmen, sondern am ganzen Körper. Über die Videoleinwände spielt der Klub ein Abschiedsvideo in Gedenken an die verstorbene Vereinsikone Jimmy Bell. Emotionaler Applaus der mittlerweile 50.000 Schotten, auch die 1.000 Leipziger applaudieren. Das Video ist mit melancholischer Klaviermusik untermalt und zeigt den ehemaligen Zeugwart fröhlich und freundlich bei seiner Arbeit.
Ein paar Minuten dauert der Beitrag, ehe vom Stadionsprecher Tina Turners "Simply the best" eingespielt wird. Es ist eine unfassbare Atmosphäre. 50.000 Schotten singen mit Tränen in den Augen inbrünstig für ihren verstorbenen Freund und Mitarbeiter: "You're simply the best, better than all the rest, better than anyone…" Ergreifend. Über meine Wange läuft tatsächlich auch eine Träne. Ich kannte Jimmy Bell nicht und habe seinen Namen vorher auch noch nie gehört. Aber dieser Zusammenhalt, diese Kulisse und diese Emotionalität sind einfach unbeschreiblich berührend. Das habe ich so noch nicht ansatzweise in einem Fußballstadion erlebt. Ich fühle mich so, als hätte ich einen guten Freund verloren.
Dem 3:1 folgt Ekstase pur
Anschließend betreten die Mannschaften unter ohrenbetäubendem Lärm das Feld. Anpfiff. Die Pressetribüne wackelt. Das Ibrox Stadium bebt. Kurz darauf gehen die Rangers in Führung. Wenn jetzt gleich das Dach wegfliegt, wundert es mich nicht. Nur wenig später steht es 2:0. Der Torschrei dröhnt in den Ohren, jetzt muss das Dach doch aber wirklich abheben? RB Leipzig ist zutiefst beeindruckt - und ich bin es auch. Tedescos Elf bekommt unter dieser Atmosphäre kaum einen Fuß vor den anderen. Blanker Wahnsinn. Ein Hexenkessel aus dem Lehrbuch.
Als die Gäste im zweiten Durchgang das Zepter in die Hand nehmen und auch durch Christopher Nkunku verkürzen, verflacht die Stimmung für einen kurzen Augenblick. "Mit einem weiteren Tor zieht RB hier den Stecker", denke ich mir. Kaum daran gedacht, schon wackelt die Tribüne wieder. Die Fans haben sich nach kurzem Schock gefangen, schreien "Come on Rangers!" aus 50.000 geölten Kehlen. Schließlich fällt aus dem Nichts das 3:1 für die Hausherren. Jetzt explodiert das Ibrox vollständig. Der blaue Teil Glasgows liegt auf- und übereinander. Ich verstehe mein eigenes Wort nicht mehr. Ekstase pur.
Selbst der Rangers-Pressesprecher ist überwältigt
Abpfiff. Maximaler Gefühlsausbruch über Minuten. Die Rangers stehen im Finale. Angespornt vom Stadion-DJ dreht das leidenschaftliche Publikum noch einmal komplett am Zeiger. Erneut schallt "Simply the best" durch das enge, steile Rund. Mehrere Gassenhauer donnern durch den Fußballtempel aus rotem Backstein. Meine Gänsehaut lässt nicht nach. Gefühlt bildet sich auf meiner Gänsehaut eine weitere Schicht.
Nach der Partie sind die Interviewpartner Tedesco und Konrad Laimer vollständig ausgelaugt. Und ich bin es auch. Was für ein Abend, was für ein Erlebnis. Später spreche ich noch mit dem Glasgower Pressesprecher, der mir erzählt: "Sowas habe ich seitdem ich hier bin noch nicht erlebt." Und ich auch nicht. Ein unvergessliches Erlebnis. This is Ibrox.
