Spiderman resigniert! Stürzt Bayern die Spurs in eine Identitätskrise?
28.06.2023 | 21:48 Uhr
Seit Ewigkeiten hat Tottenham keinen nennenswerten Titel mehr gewonnen. Nun dürfte auch noch Rekordtorschütze Harry Kane dem Verein den Rücken kehren, bei dem er jahrelang nahezu die einzige Konstante war. Eine enorme Zäsur. Wie soll es für die Spurs weitergehen?
Der Hollywood-Star und bekennende Tottenham-Fan Tom Holland hat sich bei dem britischen Medienunternehmen Unilad jüngst resigniert zu den Aushängeschildern der Spurs geäußert. Auf die Frage, was der "Spider-Man"-Schauspieler Harry Kane mitgeben würde, könnte er ihm ein Memo zusenden, erklärte er: "Ich würde sagen, geh nach Madrid. Geh und werde der beste Fußballspieler der Welt, der du verdienst zu sein." Und auch seinem Lieblingsspieler Heung-min Son gab er geradezu verzweifelt klingend den Ratschlag: "Geh mit ihm, geht zusammen, gewinnt die Champions League zusammen, bitte." Es ist nicht einfach, Tottenham-Fan zu sein.
Seit Jahren hat Tottenham keinen Titel mehr gewonnen. Der letzte Gewinn eines Pokals lässt sich auf das Jahr 2008 zurückdatieren - dort gewann man den Ligapokal, der auch nur von geringem Stellenwert ist. Der letzte "größere" Titel war 1991 der Gewinn des FA Cup. Noch nie haben die Spurs die Premier League gewonnen, noch nie die Champions League. Und so, wie es aktuell aussieht, dürfte sich daran in absehbarer Zukunft auch nichts ändern.
Nach Sky Informationen hat Tottenham-Kapitän Harry Kane bereits vor ein paar Tagen dem FC Bayern München das Ja-Wort gegeben. Mit ihrem ersten verbalen Angebot sind die Bayern-Bosse noch bei den Spurs abgeblitzt, ein zweites schriftliches soll folgen. Wohl und Wehe der Nordlondoner hängt im Augenblick davon ab, wie viel Geld der deutsche Rekordmeister bereit ist auszugeben. Das Tottenham Hotspur Stadium ohne Harry Kane - für viele kaum vorstellbar.
2004 wechselte Kane, der von Kindesbeinen an Spurs-Fan ist, in die Jungendabteilung seines Herzensvereins. 2012 gab er sein Premier-League-Debüt, seit 2014 ist er unangefochtener Stammspieler. Jahr für Jahr brachte Kane seine Leistung auf den Platz, von einer persönlich schlechten Saison kann man seitdem kaum sprechen. Mittlerweile ist er Rekordtorschütze des Vereins und einer der erfolgreichsten Stürmer in der Geschichte der Premier League: Lediglich Alan Shearer hat in der höchsten englischen Spielklasse häufiger getroffen als Kane. Nur: Seine Mitspieler taten es ihm nicht gleich. Und da der Fußball bekanntermaßen ein Mannschaftssport ging auch das ewige Warten auf einen Titel weiter.
In der Saison 2015/16 sah es zwischenzeitlich so aus, als könnte der erste Premier-League-Titel endlich errungen werden. Über weite Teile der Spielzeit duellierte sich der spätere Sensations-Gewinner Leicester City mit Tottenham um die Tabellenspitze - letztlich wurden die Spurs sogar nur Dritter - hinter Erzrivale Arsenal. Bis heute verhöhnen gegnerische Teams Tottenham mit dem Gesang: "Who came third in a two horse race?"
Ein Jahr später erzielte man mit einem zweiten Platz die beste Liga-Positionierung seit 1963. Ein Jahr darauf wurden die Spurs wieder Tabellendritter. Zum ganz großen Wurf hat es aber nie gereicht, seitdem ging es nur noch bergab - mit dem vorläufigen Tiefpunkt in der letzten Saison: In der vergangenen Spielzeit waren die Spurs so schlecht wie seit 14 Jahren nicht mehr. Als Achtplatzierter wird Tottenham in der nächsten Saison komplett auf das internationale Geschäft verzichten müssen. Nur auf einen war abermals Verlass: Harry Kane schoss 30 Tore und verpasste über die komplette Saison nur zwölf Minuten. Das beständige Rückgrat von Tottenham, es droht nun wegzubrechen. Und mit ihm der Verein.
Aktuell ist nämlich nicht absehbar, wer die mögliche Lücke von Kane zu schließen vermag. Tottenhams einziger alternativer Mittelstürmer ist Richarlison, der erst im vergangenen Sommer als zweitteuerster Transfer der Vereinsgeschichte vom FC Everton nach Nordlondon wechselte und dort bislang sensationell scheiterte. In der letzten Saison hat der Brasilianer mehr Gelbe Karten für Torjubel gesehen (2), als er gültige Treffer erzielt hat (1). Nicht nur als Torgarant würde Kane fehlen, auch als Zulieferer müssten seine Übersicht und Passschärfe erstmal kompensiert werden. Davon profitierte in der Vergangenheit vor allem ein Mitspieler besonders.
So würde auch für Kanes kongenialen Offensiv-Partner Heung-min Son ein Abgang eine schmerzhafte Zäsur bedeuten. Seit acht Jahren bilden die beiden den Angriff bei Tottenham, sind nicht nur abseits des Platzes befreundet, sondern verstehen sich auch auf dem Platz blind: Kein Duo in der Geschichte der Premier League hat sich gegenseitig mehr Tore aufgelegt als Kane und Son.
Der Südkoreaner wurde zuletzt ebenfalls mit einem Abgang in Verbindung gebracht. Laut einem Bericht von ESPN war der saudische Klub Al-Ittihad an einer Verpflichtung von Son interessiert. Sowohl Son als auch Tottenham haben sich allerdings dezidiert dagegen entschieden. Die gleichzeitigen Abgänge beider Spurs-Legenden wäre ohnehin kaum auszugleichen. "Ich habe in der Premier League noch viele Dinge zu tun. Geld spielt für mich momentan keine Rolle", erklärte der 30-Jährige daraufhin. Er wolle zudem noch länger bei Tottenham spielen. Klar ist: Sollte Kane den Spurs den Rücken kehren, wird es in Zukunft umso mehr auf Son ankommen. Auf dem Transfermarkt verhält sich Tottenham bislang noch sehr verhalten.
Lokalrivale Arsenal hat sich mittlerweile mit Kai Havertz verstärkt, West Hams Declan Rice und Ajax' Jurrien Timber sollen noch kommen. Auch die anderen Vereine der Top 6 um Manchester City, Manchester United, Chelsea und Liverpool arbeiten daran, ihre Kader umzugestalten. Bei den Spurs gibt es bislang aber nur wenig Bewegung.
James Maddison wechselt für rund 46 Millionen Euro von Premier-League-Absteiger Leicester City zu den Tottenham Hotspur, wie der Verein am Mittwochabend bekannt gab. Zuvor hatten die Nordlondoner bereits Torhüter Guglielmo Vicario vom FC Empoli verpflichtet. Ob es sich so allerdings zurück in das europäische Geschäft spielen lässt, ist fraglich. 63 Gegentore kassierte Tottenham in der vergangenen Saison - nur fünf Vereine waren noch anfälliger.
Nach einer solchen Saison soll in Nordlondon einiges anders laufen. Mit Ange Postecoglou wurde nun ein neuer, weitgehend unbekannter Übungsleiter verpflichtet, der in der abgelaufenen Spielzeit mit Celtic Glasgow das Triple holte und Tottenham wieder zurück in die Spur bringen soll. In der Vergangenheit glich die Trainerbank bei den Spurs einem Schleudersitz: Seit dem Abgang von Mauricio Pochettino im Jahr 2019 hielt sich kein Trainer länger als zwei Jahre. Jose Mourinho, Nuno Espirito Santo, Antonio Conte, Christian Stellini, zwischendurch zwei Mal Ryan Mason als Interimscoach: Niemand konnte dem Verein zum Erfolg verhelfen.
Kurz bevor Antonio Conte Ende März dieses Jahres vor die Tür gesetzt wurde, holte dieser noch einmal zum Rundumschlag gegen den Verein aus. "Hier passiert immer das Gleiche, jede Saison. Der Klub trägt Verantwortung für den Transfermarkt, auch der Trainer trägt Verantwortung. Aber die Spieler: Was ist mit den Spielern?", polterte er und legte nochmal nach: "Sie sind es hier gewohnt. Sie spielen nicht für etwas Wichtiges. Sie wollen nicht unter Druck spielen. Sie wollen nicht unter Stress spielen. So ist es ganz einfach. Das ist die Geschichte von Tottenham."
Unter Postecoglou soll sich das ändern. Sky UK Experte Craig Foster sprach über die Spurs und ihren neuen Coach bereits von einer "himmlischen Verbindung", Tottenham-Präsident Daniel Levy gab bei der Vorstellung des 57-Jährigen zugleich Einblick, auf welche Aspekte es in Nordlondon in Zukunft ankommen wird: "Er hat eine hervorragende Erfolgsbilanz bei der Entwicklung von Spielern und ein Verständnis für die Bedeutung der Verbindung zur Akademie - alles, was für unseren Klub wichtig ist." Bereits ein Fingerzeig, worauf die Spurs wert legen müssen, wenn ihre zentrale Säule wegbricht?
Denn fest steht: Harry Kane wird ohne Weiteres nicht zu ersetzen sein. Es kann aber auch eine Chance sein, neue Talente heranzuziehen und sich in der nächsten Saison ohne den Druck der europäischen Wettbewerbe eine neue Identität aufzubauen. Ganz nach dem Vereinsmotto der Spurs: "Audere est Facere" - "Wagen ist tun".
"Tottenham-Fan zu sein ist in etwa so wie in 'The Crowded Room' zu sein", erklärte Tom Holland im weiteren Verlauf des Gesprächs im Hinblick auf seine mehrheitlich kritisierte neue Psychothriller-Serie. "Es hat mich Resilienz gelehrt." Ein Hoffnungsschimmer für alle, die es mit den Spurs halten: Man kann kaum noch enttäuscht werden.
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